Hauptbahnhof Bremen: Versuch eines Wandels vom Problem- zum Zukunftsort

Antrag der FDP-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft

Die Debatte zur Aktuellen Stunde in der Sitzung der Bremischen Bürgerschaft (Land) im November 2022 hat ein klares Bild der vielfältigen Problemlage am Bremer Hauptbahnhof gezeichnet. Dass Bahnhöfe in Großstädten nicht nur Dreh- und Angelpunkt menschlicher Mobilität sind, sondern immer auch Zentralorte für Elend zwischen Armut, Abhängigkeit, Prostitution und Kriminalität, ist kein Geheimnis. In den letzten Jahren haben Crack und Corona die Situation in einer Art und Weise und mit einer Geschwindigkeit zugespitzt, die noch vor ein paar Jahren kaum vorstellbar war.

Bahnhöfe gehören gerade in großen Städten zu den am dichtesten belebten sozialen Orten. Allein an diesem Punkt teilen sich alle sozialen Gruppen einen Stadtraum. Privates Handeln und gesellschaftliche Notlage werden dabei öffentlich, was die Situation gesellschaftlich stets herausfordernd macht. Neben dem An- und Abschwellen von Reiseströmen sind es Lebensäußerungen unterschiedlichster Art, die von bürgerlichem Repräsentationswillen bis zur Ausbreitung von Prostitution und Kriminalität reichen. Diese Problemlage ist nicht neu. Schon im späten 19. Jahrhundert reagierte man mit der Gründung der interkonfessionellen Bahnhofsmission auf herausfordernde Lagen an Bahnhöfen.

Die Situation am Bremer Hauptbahnhof ist komplex. Diese bittere Wahrheit ist so simpel wie tragisch. Massiver Polizeieinsatz wirkt kurzzeitig ordnend, langfristige Besserung aber schafft er nicht und darf auch im Hinblick auf eine nachhaltige Wirkeffizienz nicht überschätzt werden. Alkohol und Drogen können Menschen zu kranken Menschen machen. Kranke Menschen brauchen keine Polizei, sondern medizinische Hilfe, Begleitung durch Streetworker und engmaschige soziale Begleitung. Konsumierende von Drogen, besonders von Crack, bedürfen sicherer Orte, wo primär der Konsum im Vordergrund steht, sekundär aber Vertrauen aufgebaut und nachhaltige Hilfe angebahnt werden kann. Ein schnell ausgesprochenes Alkoholverbot aber wird der Komplexität der Situation nicht gerecht. Wer einmal ankommende Fans zum Werder-Spiel durch den Bahnhof ziehen sah, ist sich ohnehin sicher, dass es nicht durchgesetzt werden könnte. Es taugt als plakative Forderung, verkennt aber zugleich die Tiefe und Vielschichtigkeit der Problemlage.

Die Frage, wie viele Menschen sich im Bahnhofsumfeld aufhalten, die Hilfe benötigen, ist unbeantwortet. Ebenso unklar bleibt bisher, welche Kapazitäten der medizinischen und therapeutischen Versorgung es bräuchte, um ihnen sach- und fachgerecht zu helfen. Dass der Drogenkonsumraum noch nicht zur Verfügung steht, ist bedauerlich, denn er wäre im Geschehen ein Zentralort, von dem aus Hilfe koordiniert werden könnte. 

Ziel lösungsorientierter Kommunalpolitik ist es, den stadtgesellschaftlichen Mikrokosmos Bahnhof möglichst genau zu analysieren. Gleichzeitig muss Einigkeit in der Frage erzeugt werden, welche politische, ökonomische, kulturelle, soziale, integrative und verkehrstechnische Funktion der Bahnhof zukünftig erfüllen soll. Das bedeutet, den Bahnhof als Sozialraum und Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Entwicklung aktiv zu konzipieren: Welche Funktionen soll der Bahnhof auf sich ziehen, welche können in seine unmittelbare Umgebung verlagert werden und wie muss die Anbindung an die Quartiere erfolgen?

Kein Angebot gibt aktuell auf den freien Flächen rund um den Bahnhof eine Nutzung vor. Die Aufsuchenden nutzen die Flächen, Hilfsangebote folgen ihnen und wirken damit wiederum anziehend auf die Hilfsbedürftigen. Will man aber die Problemlage entspannen, muss sie stadtplanerisch gelöst werden. Mit dem Überseemuseum ist eine erste touristische Attraktion der Stadt allgegenwärtig, als solche inszeniert wird sie aber nicht. Auf dem Platz der Deutschen Einheit steht ein historisches Monument zentraler deutscher Geschichte – ein Mauerstück, das an die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Wie viele andere Monumente aber geht es im Alltagsschmutz unter, ohne konzeptuell in eine historische Stadt- und Landesgeschichte eingebunden zu sein. Orte mit gehobener Aufenthaltsqualität, die unterschiedlichste Nutzergruppen ansprechen, sind in den letzten Jahrzehnten für den Hauptbahnhof nicht konzipiert worden. Ebenso fehlt ein systematischer Aufbau einer nachhaltigen Hilfestruktur für alle Bedürftigen, die am Bahnhof ankommen. Und auch die Frage, warum sie in ihren Quartieren keine Hilfe- und Anlaufpunkte finden und deshalb der Bahnhof für sie zum Zentralort wird, ist bislang unbeantwortet.

Ziel muss es sein, den Bremer Hauptbahnhof wieder in einen weiten stadträumlichen und stadtsoziologischen Kontext zu rücken. Tourismus ist ohne Mobilität des Gastes an Orten mit hoher Aufenthaltsqualität nicht vorstellbar. Bremen braucht deshalb eine nachhaltige Tourismusstrategie, in der der Hauptbahnhof eine zentrale Funktion übernimmt und nicht abschreckend wirkt. Gleichzeitig bedarf es medizinischer Hilfen, therapeutischer Zentren, Ausgabestellen von Drogenersatzprodukten, Mittagstische und Kleidersammlungen in Bahnhofsnähe. Unmittelbar neben dem Bahnhof liegt mit den noch vorhandenen Flächen und Immobilien im Umfeld des ehemaligen Güterbahnhofes ein zentrales und räumlich leicht getrenntes Areal. Regelt man den gesicherten Zugang, könnte hier ein einmaliges therapeutisches Zentrum für Suchtkranke entstehen. Bremen könnte seinem eigenen Anspruch an eine integrative Stadtgesellschaft gerecht werden und dennoch den Reiseort Bahnhof in seiner Funktion auch für den örtlichen Nahverkehr wieder attraktiver werden lassen. Etwa 200 Kulturschaffende nutzen aktuell das 36.000qm große Areal. Hier gilt es, in einen intensiven Dialog zu treten, denn zur Belebung der Innenstadt könnten Sie möglicherweise andere Orte der zentralen Innenstadt mit Leben füllen, so einerseits selbst eine höhere Sichtbarkeit gewinnen und andererseits zur Attraktivierung der Innenstadt beitragen. 

Die Problemlage am Bahnhof zu entspannen, kann nicht in der Hand eines einzelnen Ressorts liegen. Der Aktionsplan Hauptbahnhof zeigt, dass hierüber im aktuellen Senat Einigkeit herrscht. Bisher allerdings äußert sich diese Zusammenarbeit nicht in einer gemeinsamen Vision zukünftiger Stadtentwicklung. Aus den hier akkumulierten Einzelproblemen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu beschreiben und diese unter Beteiligung aller, auch der Betroffenen – soweit es möglich ist – zu lösen, kann ein Ansatz für eine langfristige Besserung der Lage am Bremer Hauptbahnhof sein.

Unsere Beschlussempfehlung:

Die Bremische Bürgerschaft (Stadtbürgerschaft) fordert den Senat auf:

  1. Den tatsächlichen Bedarf an medizinischen und therapeutischen Hilfen am Bahnhof zu ermitteln und gleichzeitig zu eruieren, welche medizinischen und therapeutischen Bedarfe in einzelnen Quartieren offenbleiben und deshalb zu einem Ausweichen an den Bremer Hauptbahnhof führen.
  2. Im Dialog mit den Verantwortlichen vom Überseemuseum, den anliegenden Gastronomie- und Hotelbetrieben sowie dem Projektbüro Innenstadt auszuloten, welche alternativen Nutzungskonzepte für die den Bahnhof umgebenden Flächen vorstellbar sind und was diese dazu beitragen können, einen positiven Verdrängungseffekt hin zu einem zentral angelegtem Hilfe- und Unterstützungszentrum zu verstärken, um die Situation am Bremer Hauptbahnhof langfristig zu verbessern.
  3. In einer Machbarkeitsstudie auszuloten:
    •  welche Rahmenbedingungen das weitere Gelände um den ehemaligen Güterbahnhof für einen zentralen Hilfeort böte und welche Unterstützungs- und Therapieangebote hier akkumuliert werden könnten;
    • gleichzeitig auch stadträumliche und zentrale Alternativen für die Kulturschaffenden des Güterbahnhofs aufzuzeigen, die ihnen zu einer höheren Sichtbarkeit im Innenstadtraum verhelfen würden und 
    • im Vergleich die Vor- und Nachteile der Standorte im Umfeld des ehemaligen Güterbahnhofes und der aktuell vom Senat präferierten Verlagerung der Hilfen in die Friedrich-Rauers-Straße aufzuzeigen.
  4. Festzustellen, welche konstanten sicherheitspolitischen Einrichtungen am Bahnhof und im unmittelbaren Umfeld eingerichtet werden müssen, um den Bahnhof für alle Bremerinnen und Bremer, aber auch alle Gäste sicherer zu machen und den Handel mit illegalen Substanzen einzudämmen. Dem muss eine Evaluierung der bisherigen innen- und sicherheitspolitischen Maßnahmen hinsichtlich ihrer kurz-, mittel- und langfristigen Wirksamkeit vorausgehen. 
  5. Den Deputationen für Kultur, für Inneres und für Soziales, Jugend und Integration innerhalb von 3 Monaten über den Fortschritt in den unter 1-4 eröffneten Themenfeldern zu berichten