First Things First: Physische und psychische Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche nicht ignorieren!

Dringlichkeitsantrag der Fraktion der FDP.

Mehr als ein Jahr Pandemie liegt hinter uns. Viele gesellschaftliche Auswirkungen werden erst jetzt sichtbar und dürfen nicht ignoriert werden. Schon lange mahnen Kinder- und Jugendärzte oder Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe vor den gesundheitlichen Folgen der Corona-Pandemie für die Jüngsten in unserer Gesellschaft. Dabei fokussieren sie weniger auf die unmittelbare Erkrankung mit dem Virus und daraus resultierende gesundheitliche Beeinträchtigungen, als viel eher auf die physischen und psychischen Auswirkung des Lock-Downs mit der Schließung von Kitas und Schulen, der Beschränkung der sozialen Kontakte und der vielfachen Einschränkungen im Freizeitbereich.

Inzwischen belegen auch Studien die traurige Einschätzung der Experten des Alltags: Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf legt eine Studie vor, nach der jedes dritte Kind während der Corona-Pandemie psychische Auffälligkeiten entwickelt hat. Die CO-PSY-Längsschnittstudie zeigt die Zunahme von Konzentrations-, Ess- und Angststörungen, aber auch den Anstieg von Suizidgedanken und -versuchen bei Kindern und Jugendlichen. Die Forscherinnen und Forscher des Universitätsklinikums mahnen außerdem vor einer hohen Dunkelziffer von Kindesmisshandlungen. Die Zunahme der häuslichen Gewalt laut Bremer Polizeilicher Kriminalstatistik um 15,8 Prozent im Pandemiejahr 2020 spricht eine ähnliche Sprache. Das Erleben von häuslicher Gewalt – am eigenen Leib oder gegen eine Bezugsperson – hat immer Auswirkungen auf die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung. Hier gilt es ausreichend Unterstützungsangebote zu eröffnen, die Kinder und Jugendlichen im Umgang mit der Gewalterfahrung zu begleiten und damit verbundene Emotionen verstehen und benennen zu können. Es gilt alle Hilfen zu mobilisieren, die zu einer emotionalen Entlastung der Betroffenen beitragen, um positiv auf die psychosoziale Entwicklung einzuwirken.

Anfang März setzte die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein deutliches Signal, die physischen und psychischen Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen. In einem digitalen Treffen mit acht 15-24jährigen jungen Menschen eröffnet sie den dringend notwendigen Diskurs und mahnt seitdem immer wieder an, dass es nicht nur um den verpassten Unterricht geht. Neben den Bildungs- sind es für sie die Bindungslücken, die nachhaltig negative Auswirkung auf die Gesundheit vieler Kinder und Jugendlicher haben.

Angesichts der beschriebenen Entwicklung ist rasches Handeln gefragt. Die Kinder und Jugendlichen dürfen in der jetzigen Situation nicht allein gelassen werden. Gesellschaftliche Aufgabe muss es sein, die Auswirkungen der pandemiebedingten Einschränkungen auf die kognitive und psychosoziale Entfaltung der Kinder und Jugendlichen zu erfassen und auszuwerten. Ob ihnen geholfen wird, darf nicht vom Engagement und von den Möglichkeiten einzelner Personen und Institutionen abhängen.

Auf der Basis eines rasch einberufenen, digitalen Krisengipfels, der die verschiedenen Akteure – Politiker, Experten aus Wissenschaft, Verbänden, Kinderärztinnen und Kinderärzte, Kinderpsychologinnen und Kinderpsychologen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter, der Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen sowie der offenen Kinder- und Jugendarbeit, Elternvertretungen und schließlich die Kinder und Jugendlichen selbst – zusammenbringt, gilt es, die gemeinsamen Anstrengungen zu koordinieren, Bedarfe auszuloten und schließlich entsprechende Angebote zu organisieren, mit denen den Kindern und Jugendlichen gezielt und strukturiert geholfen werden kann. Zur Umsetzung dieser Hilfen braucht es an den Bildungseinrichtungen des Landes mehr zusätzliches psychologisches und pädagogisches Personal, das ganz unterschiedliche digitale und analoge Angebote unterbreitet und die Kollegen vor Ort in ihrer Arbeit unterstützt. Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer stehen durch ihre Arbeit in engem Kontakt zu den Familien. Das bestehende Vertrauensverhältnis ermöglicht es ihnen auch als Brückenbauer in bestehende Hilfestrukturen fungieren können. Deshalb ist es wichtig, das Personal in Kitas und Schulen durch eine gezielte Kampagne für die gesundheitlichen Folgeschäden der Corona-Pandemie bei Kindern und Jugendlichen zu sensibilisieren.

Nach den Monaten der Kontaktbeschränkung und des reduzierten Umgangs miteinander muss wieder – so es das Pandemiegeschehen zulässt – das soziale Miteinander gestärkt werden. Sport und Spiel in der Gemeinschaft, die Erfahrung von Ausflügen, der gemeinsame Besuch außerschulischer Lernorte, Klassenfahrten – alle diese Dinge können einen Beitrag dazu leisten, die negativen Folgen der Pandemie für die Kinder und Jugendlichen abzufedern. Dazu bedarf es einer, den neunen Bedarfen angepassten Absicherung der Finanzierung der offenen Kinder- und Jugendarbeit, der Bürgerhäuser in den Stadtteilen, der Kinder- und Jugendfarmen und all dieser Einrichtungen, die Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben begleiten und ihnen Chancen eröffnen.

Nicht nur die Kinder und Jugendlichen im Land Bremen leiden unter den Folgen der Pandemie. Deutschlandweit lässt sich ein ähnliches Bild der physischen und psychischen Auswirkungen zeichnen. Deshalb ist es wichtig, den Bund bei der Lösungsfindung und -umsetzung in die Verantwortung zu nehmen.

Die Bremische Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:

Die Bremische Bürgerschaft (Landtag) fordert den Senat auf:

1. Möglichst kurzfristig einen digitalen Kinder-Corona-Gipfel einzuberufen, um mit relevanten Akteuren Defizite und Bedarfe zu identifizieren und folgelogische Maßnahmen für den Kinder- und Jugendschutz zu koordinieren. Dabei sind mindestens folgende Schwerpunktfragen zu behandeln:

a) Muss zusätzliches psychologisches und pädagogisches Personal an den Bildungseinrichtungen zur Verfügung gestellt werden, das den speziellen Auftrag erhält, sich digital und analog, während und nach der Pandemie um die durch Corona entstandenen oder verschärften Beratungs- und Hilfsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zu kümmern?b)  Braucht es eine niedrigschwellige Kampagne, die Kinder und Jugendliche selbst, die Eltern und das pädagogische Personal der Bildungseinrichtungen für die Auswirkungen der Pandemie sensibilisiert und über Hilfsangebote informiert und wenn ja, wie kann diese aussehen?

c)  Ist die außerschulische Kinder- und Jugendarbeit finanziell ausreichend ausgestatten, um möglicherweise erhöhten Bedarfen gerecht werden und passgenaue Zusatzangebote entwickeln kann oder müssen vorhandene Mittel anders eingesetzt werden?

d)  Wie kann der aktuelle Bedarf an Therapie- und Betreuungsplätze für Kinder und Jugendliche (z. B. in der Psychotherapie und Psychiatrie) erfasst und gegebenenfalls der Ausbau des Bremer Therapie- und Beratungsnetzwerkes vorangetrieben werden?

e)  Wie kann das Betreuungs-, Freizeit- und Lernangebote für die Ferienzeiten in den kommenden Jahren quantitativ und qualitativ für Kinder und Jugendliche ausgeweitet und pandemiefest aufgestellt werden?

f)  Sind die Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendlichen mit familiären Gewalterfahrungen ausreichend oder müssen sie in Umfang und Intensität angepasst werden?

  1. Nach drei Monaten der Deputation für Soziales und der Deputation für Kinder und Bildung vom Kinder-Corona-Gipfel ausführlich über Bedarfe und Maßnahmen zu berichten und künftig im Abstand von sechs Monaten über die Fortschritte in den jeweiligen Zuständigkeitsfeldern zu informieren.
  2. Sich auf Bundesebene für ein länderübergreifendes Aktionsbündnis für Kinder- und Jugendgesundheit einzusetzen, welches zielgerichtet Maßnahmen koordiniert und die Länder in ihren Aktivitäten finanziell unterstützt.