Hat das Landesjugendamt die spezifischen Bedürfnisse Alleinerziehender und ihrer Kinder im Blick?

Kleine Anfrage der FDP-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft.

Der Hamburger Jugendhilfeexperte Wolfgang Hammer hat an 42 Fällen exemplarisch nachgewiesen, dass alleinerziehenden Müttern Kinder entzogen wurden, ohne dass es einen Hinweis auf Gewalt oder Vernachlässigung in den Familien gegeben hätte. Der Soziologe war bis 2013 selbst Referatsleiter für Jugendhilfe in Hamburg. Auf eine im Bundestag veranlasste Anhörung im Sommer 2017 seien ihm für seine Untersuchung 167 Fälle zur Kenntnis gelangt. Er selbst schränkt ein, dass seine Studie nicht repräsentativ ist und eher ein Zeugnis der Fälle ablege, die an ihn herangetragen wurden. Um das Thema weiter wissenschaftlich zu begleiten, hat er das Material dem Mainzer Institut für Kinder- und Jugendhilfe übergeben, damit es sich im Forschungsvorhaben „Hochproblematische Kinderschutzverläufe: Betroffenen eine Stimme geben“ mit diesen Fällen systematisch beschäftigt. Das Mainzer Institut arbeitet hier in enger Kooperation mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zusammen, um den in Deutschland notwendigen Reformprozess in der Jugendhilfe wissenschaftlich zu begleiten und die Betroffenenperspektive stärker einzubeziehen.

Ohne Zweifel sind die von Wolfgang Hammer beschriebenen Fälle Extreme. Dennoch rücken Sie die Gruppe der Alleinerziehenden und ihre spezifischen Bedürfnisse noch einmal stärker in den Blick. In Bremen gibt es nach den Zahlen von 2020 mehr als 17.000 Alleinerziehende mit Kindern unter 18 Jahren, was 27 Prozent – im Bundesvergleich sind es 17 Prozent – aller Familien mit minderjährigen Kindern entspricht. In der Praxis bedeutet es, dass fast jeder dritte Haushalt mit Kindern von nur einer Person geführt wird. Alleinerziehende und ihre spezifischen Herausforderungen zu kennen und mit geeigneten Konzepten Abhilfe zu schaffen, zeichnet eine soziale, familienfreundliche Stadt aus. Alleinerziehend zu sein oder zu werden ist eine gesellschaftliche Normalität und dennoch stellt diese Zeit für das alleinerziehende Elternteil eine große Herausforderung dar. Hier ist auch der gesamte Bereich der Jugendhilfe gefordert, Eltern und Kinder passgenau und vorurteilsfrei zu begleiten.  

Vor diesem Hintergrund fragen wir als FDP-Fraktion den Senat:

  1. Welche Formen der Qualifizierung und Fortbildung stehen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesjugendamtes offen, um die spezifischen Bedürfnisse von Alleinerziehenden zu berücksichtigen und für eventuell unbewusste Diskriminierungen von Alleinerziehenden zu sensibilisieren?
  2. Wie hoch ist der Anteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Jugendamt, die eine Frage 1 entsprechende Qualifizierung bzw. Fortbildung durchlaufen haben?
  3. Existiert für strittige Fragen und Entscheidungen des Jugendamtes eine unabhängige Ombudsstelle, wenn ja, wo ist diese angesiedelt und wie kann man sich über ihre Existenz informieren, wenn nein, warum nicht und ist die Einrichtung einer solchen Stelle geplant?
  4. Welche niederschwelligen Hilfen in Notsituationen (bspw. Krankheit) und regelmäßige Entlastungen im Alltag kann das Jugendamt hilfesuchenden Alleinerziehenden eröffnen, gerade wenn bspw. Haushaltshilfen über die Krankenkasse einen zu langen zeitlichen Vorlauf brauchen, um wirklich akut entlastend zu sein?
  5. Sind für den in Frage 4 genannten Bereich für die Zukunft spezifische Hilfsmodelle geplant, die sich aus der bisherigen Praxis in der Begleitung Alleinerziehender durch das Landesjugendamt ergeben und wenn ja, welche sind es und wann sollen sie realisiert werden?
  6. Ist die relative Zahl von Inobhutnahmen und Fremdunterbringungen bei Kindern Alleinerziehender im Land Bremen höher als bei gemeinsam Erziehenden bzw. gemeinsam getrennt Erziehenden? Wenn ja, welche familienbiografischen Selbstverständlichkeiten bilden diese Zahlen ab und ab wann wird ein Unterschied in den Fallzahlen als auffällig bewertet und systemkritisch hinterfragt?
  7. Ist die relative Zahl der Inobhutnahmen bei alleinerziehenden Vätern oder Müttern im Vergleich zum Gesamtanteil alleinerziehender Väter oder Mütter auffällig höher und wenn ja, wie kann diese begründet werden?
  8. Welche Kooperationen bestehen mit dem Familiengericht, um aus den Erfahrungen des Landesjugendamtes beispielsweise die Qualitätsstandards für die Ausbildung von Verfahrensbeiständen zu definieren und hier für die spezifischen Bedürfnisse Alleinerziehender und familiäre Konfliktsituationen zu sensibilisieren?
  9. Ist es aus den Erfahrungen des Landesjugendamtes nötig, spezifische Hilfen jeweils für alleinerziehende Väter und alleinerziehende Mütter vorzuhalten, wenn ja, welche sind das und wie sind sie begründet, wenn nicht, warum nicht?
  10. Das Recht auf Umgang mit beiden Elternteilen ist für den das Kind betreffenden Rechtsbereich zentral und kann deshalb auch vom Familiengericht verpflichtend angeordnet werden, wenn es dem Wohl des Kindes dient – verhängt das betreuende Gericht im Land Bremen aktuell entsprechende Ordnungsmittel und wenn ja, in wie vielen Fällen geschah das und wie sahen die Ordnungsmittel jeweils aus?
  11. In wie vielen Fällen wurden die in Frage 9 genannten Ordnungsmittel durchgesetzt, weil ein Elternteil dem anderen Elternteil den Umgang mit dem Kind verwehrt und wie sahen die Ordnungsmittel jeweils aus?
  12. Bei den von Wolfgang Hammer beschriebenen Fällen war eine als zu eng definierte Mutter-Kind-Beziehung – ohne psychologische oder psychiatrische Gutachten als solche beschrieben und nur aus der Einschätzung von Nachbarn, Ex-Partnern oder deren Eltern beruhend – Grund für eine Fremdplatzierung der Kinder. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob entsprechende Begründungen auch in den vom Landesjugendamt begleiteten Fällen geblickt auf die letzten 10 Jahre zur Anwendung kamen und wenn ja, ob diese Fälle nach Bekanntwerden der Fallstudien einer kritischen Revision unterzogen wurden?
  13. Wie beurteilt der Senat geblickt auf die Arbeit des Landesjugendamtes Bremen den von Wolfgang Hammer formulierten Vorwurf, dass Theorien zu einer sog. symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung gerade bei jungen Fachkräften zu einer deutlich herabgesetzten Eingriffsschwelle führen und womit begründet der Senat seine Einschätzung?
  14. Das Vorurteil, dass das Jugendamt nur Probleme machen würde und Kinder sofort aus den Familien nimmt, ist in weiten Teilen der Gesellschaft noch immer sehr verbreitet – mit welchen Kampagnen und vertrauensbildenden Maßnahme wirkt man diesem Vorurteil aus dem Jugendamt heraus entgegen und wirbt aktiv für frühe Hilfen, um familiäre Herausforderungen in Begleitung zu meistern?