Krise als Chance: Deutsche EU-Ratspräsidentschaft als Zukunftspräsidentschaft nutzen!

Dringlichkeitsantrag der Fraktion der FDP.

Am 01. Juli 2020 hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft und damit eine wichtige institutionelle Führungsrolle übernommen. Unsere Zeit ist welt- und europaweit von der Corona-Krise und den damit einhergehenden Folgen geprägt. Zugleich sind die Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht, nicht weniger geworden. Daher dürfen sich die Ambitionen der deutschen Ratspräsidentschaft nicht nur auf die Bewältigung der Krise beschränken. Im Windschatten von Corona auf Sicht zu fahren, darf für Deutschland und Europa keine Option sein. Es braucht neben einer Krisen- auch eine Zukunftspräsidentschaft. Die Wirtschaft muss wieder hochgefahren, Wohlstand gesichert, Innovation gefördert, die Digitalunion vollendet und Einigkeit in der Asyl- und Migrationsfrage hergestellt werden. Dabei wird die EU in der post-Corona Ära keine politischen Luftschlösser, sondern realistische Ziele brauchen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft kann in diesen Krisenzeiten zu einer einmaligen Chance zu Aufbruch und Erneuerung in der EU werden!

Mit der Ratspräsidentschaft kommt Deutschland auch die Rolle des Vermittlers zu und damit eine besondere Verantwortung. Zwischen den EU-Mitgliedstaaten müssen Brücken gebaut und deren vielseitigen Interessen gegenüber der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament vertreten werden. Eine herausfordernde Aufgabe, denn die Spannungen innerhalb Europas sind an- gesichts der Corona-Krise gewachsen und die europäische Zusammenarbeit wurde an vielen Stel- len als unzureichend kritisiert. Aufgabe der Präsidentschaft muss es auch sein, die EU in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu vertreten und den Dialog mit Ländern außerhalb der EU zu steuern.

Für eine handlungsfähige EU war es von entscheidender Bedeutung, eine zeitnahe Einigung auf einen mehrjährigen Finanzrahmen 2021 bis 2027 zu erzielen. Zahlreiche Projekte in ganz Europa, auch in Bremen und Bremerhaven, würden ohne europäische Fördermittel nicht verwirklicht werden können. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass nur mit soliden Haushalten Europa handlungsfähig bleibt und weitere Herausforderungen souverän bewältigt werden können. Der Anteil der Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen, wurde auf Druck der so genannten „sparsamen Vier“ von 500 auf 390 Milliarden Euro gesenkt. Der mehrjährige Finanzrahmen bleibt dennoch hinter den Erwartungen und Notwendigkeiten zurück. Es gibt viel Besitzstandswahrung, zu wenig wird in drängende Zukunftsaufgaben wie Digitalisierung, grenzüberschreitende Infrastruktur und Forschung investiert. Es bleibt aber zumindest festzustellen, dass mit dem größten Finanzpaket der Geschichte keine alt bekannten Strukturdefizite zugedeckt werden, sondern dass es wirklich darum geht, etwas zu tun für Arbeitsplätze, für Wettbewerbsfähigkeit, für die Transformation der Wirtschaft in Europa. Positiv ist auch, dass ein Mechanismus verhandelt werden konnte, mit dem Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit geahndet werden können.

Von den nun doch überraschend schnellen Einigungen auf dem EU Gipfel im Juli 2020 geht ein Signal der Handlungsfähigkeit aus. Zugleich ist festzuhalten, dass es keine Mehrheit für eine Schuldenunion und für die Vergemeinschaftung von Risiken und Haftung innerhalb der Europäischen Union gibt, sondern dass es eine finanzpolitische Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geben muss. Es wird abzuwarten sein, wie es nunmehr nach der Ablehnung durch das Europäische Parlament weitergehen wird.

Durch die im Zuge der Corona-Krise aufgesetzten Konjunkturprogramme ist die Staatsverschuldung in sämtlichen EU-Staaten dramatisch in die Höhe gestiegen. Auch Deutschland wird, nachdem es im letzten Jahr erstmals seit 2002 die Maastricht-Kriterien zur Staatsschuldenquote wieder erreicht hatte, erheblich mehr neue Schulden aufnehmen. Dabei hat gerade die Krise gezeigt, dass eine niedrige Schuldenquote die notwendigen Spielräume zu ihrer Bekämpfung lässt.

Eine Herausforderung bleibt auch der Abschluss des Brexits, zu dem viele noch offene Fragen bis zum Jahresende geklärt werden müssen. Gerade für Bremen und Bremerhaven, mit den engen Beziehungen zum Vereinigten Königreich, ist der Abschluss des Rahmenabkommens und die Aufnahme der Verhandlungen über ein umfassendes Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich von entscheidender Bedeutung.

Mit dem Europäischen Green Deal hat die EU-Kommission einen umfassenden Plan zur Umsetzung der Agenda 2030 sowie zur Transformation der europäischen Wirtschaft als Fundament einer nach- haltigen, CO2-neutralen Gesellschaft vorgelegt. Der deutschen Ratspräsidentschaft kommt eine Schlüsselrolle dabei zu, politische Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen, damit europäische Um- welt- und Klimapolitik technologieoffen, marktwirtschaftlich und den letzten wissenschaftlichen Er- kenntnissen entsprechend verwirklicht wird.

Investitionen in Forschung und Entwicklung sind nicht nur notwendig zur Bewältigung der Corona- Krise, sondern garantieren auch nachhaltiges Wachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit. Im März 2000 wurde mit der „Lissabon-Strategie“ das Ziel festgehalten, die EU innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten, wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Die „Lissabon-Strategie“ verfehlte allerdings, ebenso wie das Nachfolgeprogramm „Europa 2020“, diesen Vorsatz deutlich. So sind die Investitionen für Forschung und Entwicklung in der EU nach wie vor weit von dem Ziel entfernt, jährlich drei Prozent des Bruttoinlandproduktes zu betragen. Grundsätzlich muss stärker in die Bereiche Technologie und Innovation investiert werden, damit Europa international Vorreiter wird.

Die Abwesenheit von Binnengrenzen in Europa durch das Schengen-System ist eine der größten Erungenschaften Europas. Personenfreizügigkeit und der freie Warenverkehr sind greifbare europäische Freiheiten. Die durch die Corona-Krise bewirkten internen Grenzkontrollen und -schließungen stellen diese Grundfreiheiten langfristig in Gefahr und spielen in die Hände derjenigen, die Abschottung und Nationalstaatlichkeit anstreben. Die Corona-Krise darf nicht dazu führen, dass Schengen dauerhaft außer Kraft gesetzt wird. Die deutsche Ratspräsidentschaft muss sich dafür einsetzen, dass jegliche Kontrollen an den EU-Binnengrenzen und Reisebeschränkungen im Schengen-Raum, die in der Corona-Krise und auch davor eingeführt wurden, umgehend wegfallen, damit wir zum Binnenmarkt mit all seinen Freiheiten zurückkehren können

Die Zukunft des Projekts Europäische Union wird maßgeblich davon abhängen, wie Europa durch diese Krise kommt. Deutschland hat die Chance und die Verantwortung, in seiner Ratspräsident- schaft diese Weichenstellungen entscheidend zu prägen. Europa hat mehr verdient, als eine Ratspräsidentschaft, die nur Stillstand verwaltet und den Status Quo bewahrt. Wir brauchen eine ambitionierte deutsche Ratspräsidentschaft, die beides ist: Krisen- und Zukunftspräsidentschaft!

Es gilt mithin die Krise als Chance zu nutzen!

Die Bremische Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:

  1. Für die Bürgerschaft (Landtag) ist ein schneller Start der Konferenz für die Zukunft Europas dringender denn je und bittet die Bundesregierung daher, den Startschuss der Konferenz digital fallen zu lassen, damit der Dialog trotz der aktuellen Lage zeitnah beginnen kann. Deutschlands Aufgabe ist es, politische Anamnese zu betreiben, Impulse der EU-Mitgliedstaaten aufzunehmen und eigene Akzente zu setzen sowie interinstitutionelle Blockaden aus dem Weg zu schaffen und die notwendigen Projekte auf den Weg zu bringen.
  2. Die Bürgerschaft (Landtag) bitte die Bundesregierung, die Einführung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung im Rat im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik und die Umgestaltung des Amts des Hohen EU-Außenbeauftragten in einen regelrechten europäischen Außenminister voranzutreiben. Zudem wird die Bundesrgegierung gebeten, die Voraussetzungen für einen ständigen europäischen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) zu schaffen, womit eine personelle und finanzielle Stärkung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) einhergehen muss.
  3. Darüber hinaus bittet die Bürgerschaft (Landtag) die Bundesregierung, die Grundlage für die Einrichtung eines Europäischen Sicherheitsrates (ESR) unter dem Vorsitz des Hohen Vertreters als Plattform für sicherheitspolitische Debatten und als zentralen Ort europäischer Strategiebildung zu schaffen. In diesem Europäischen Sicherheitsrat sollte auch Expertise für globale Gesundheit vertreten sein, damit die EU zukünftig strategisch und frühzeitig auf sich abzeichnende Pandemien reagieren kann.
  4. Für die Bürgerschaft (Landtag) ist die Europäische Union in aller erster Linie eine Wertegemeinschaft. Die Bundesregierung wird daher gebeten, eine Reform des Rechtsstaatsverfahrens zu erarbeiten, damit die Entscheidungs- und Sanktionsmechanismen nach den europäischen Verträgen auf einem unabhängigen, rechtsstaatlichen Verfahren beruhen und so ausgestaltet sind, dass sie nicht durch eine kleine Minderheit von Mitgliedstaaten blockiert werden können, insbesondere durch jene Mitgliedstaaten, gegen die bereits ein ähnliches Verfahren läuft, indem diese von der Stimmabgabe ausgeschlossen werden. Die europäische Grundrechteagentur sollte hier eine entscheidende Rolle spielen. Es wird begrüßt, dass erste Einigungen in diese Richtung bereits erzielt werden konnten.
  5. Das Europäische Parlament muss, als einzige direkt durch die Bürgerinnen und Bürger legitimierte Institution der EU, nach Auffassung der Bürgerschaft (Landtag) das Initiativrecht bekommen.
  6. Die Bürgerschaft (Landtag) fordert die Stärkung des EU-Zivilschutz-Mechanismus, die Aufwertung des Europäischen Zentrums für Krisenkoordinierung (ERCC) und den Aufbau eines echten zivilen Krisenzentrums. Die Bundesregierung wird gebeten, auf eine bessere personelle und finanzielle Ausstattatung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und auf die Stärkung der koordinierenden Rolle der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) hinzuwirken.
  7. Die Bürgerschaft (Landtag) begrüßt ausdrücklich den Europäischen Green Deal. Damit der Verkehrssektor seinen Beitrag zur Zielerreichung des Green Deal leisten kann, sind aus Sicht der Bürgerschaft (Landtag) die zentralen Punkte für die deutsche Ratspräsidentschaft:
    • Erstellung einer umfassenden Europäischen Strategie für nachhaltige und smarte Mobilität, die das gemeinsame Verkehrssystem insgesamt umweltverträglicher macht; die allen Europäerinnen und Europäern nachhaltige Mobilitätsalternativen erschwinglich zugänglich macht; die bei jedem Verkehrsträger dem Verursacherprinzip folgt und die Konnektivität zwischen diesen Alternativen sicherstellt.
    • Nachhaltige Mobilität kann nur mit Technologieoffenheit erzielt werden. Diese wird dann gewährleistet, wenn Umweltziele vorgegeben werden, nicht aber die Wege zur Zielerreichung. Im Bereich der Mobilität bedeutet das, beispielsweise synthetische Kraftstoffe aus erneuerbaren Energien der Elektromobilität regulatorisch gleichzusetzen und die Anrechenbarkeit bei den Flottengrenzwerten zuzulassen. Wichtig ist auch eine ganzheitliche Bewertung der einzelnen Fahrzeuge durch eine Well-to-Wheel Bewertung. Im Luftfahrtbereich bedeutet dies weitere Investitionen in Forschung und Entwicklung alternativer, nachhaltiger Flugkraftstoffe sowie die Sicherstellung deren Verfügbarkeit. Dies kann mithilfe von Anreizsystemen seitens der Nutzer und Hersteller unterstützt werden.
    • Zur Realisierung des Green Deal im Verkehrssektor müssen zudem ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Die deutsche Ratspräsidentschaft muss sich in den Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021-2027 und im Zusammenhang mit dem Rettungsinstrument „Next Generation EU“ dafür einsetzen, dass in den transportbezogenen Programmen (CEF, Horizon Europe, InvestEU, Kohäsionsmittel) ambitionierte, der Parlamentsposition entsprechende Mittelansätze durchgesetzt werden.
  8. Für die Bürgerschaft (Landtag) ist ein einheitliches europäisches Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungsrecht ist längst überfällig, daher begrüßt die Bürgerschaft (Landtag) den Ansatz der EU-Kommission, die Reform des GEAS durch einen neuen Legislativvorschlag voranzubringe und bitte deshalb die Bundesregierung, im Rat die entsprechenden Mehrheiten zu organisieren, um eine ganzheitliche Reform zu ermöglichen.
  9. Die Bürgerschaft (Landtag) bitte die Bundesregierung sich dafür einzusetzen, dass die Binnengrenzen, die nicht verhältnismäßig sind, schnell wieder abgeschafft werden.
  10. Die Bürgerschaft (Landtag) bittet die Bundesregierung bei dem Abschluss des Rahmenabkommens mit dem Vereinigten Königreich und der Aufnahme der Verhandlungen über ein umfassendes Freihandelsabkommen insbesondere folgende Punkte sicherzustellen:
    • Die Partnerschaft mit dem VK muss im Einklang mit der Rechtsordnung der EU, unter Bewahrung der Integrität des Binnenmarkts und der Zollunion sowie im Respekt vor der Unteilbarkeit der vier Grundfreiheiten der EU stehen.
    • Im Sinne des Nordirland-Protokolls des Austrittsabkommens muss sie auch die Wahrung des Karfreitag-Abkommens gewährleisten und den Frieden auf der irischen Insel sicherstellen.
  11. Die Bürgerschaft (Landtag) bittet die Bundesregierung die deutsche Ratspräsidentschaft dafür zu nutzen, eine Lissabon-Strategie 3.0 auf den Weg zu bringen. Nach Auffassung der Bürgerschaft (Landtag) sollte diese Strategie folgende Punkte umfassen:
    • Eine deutliche Stärkung des Förderschwerpunkts Forschung und Innovation im kommenden MFR mit einer Aufstockung des Programms „Horizont Europa“. Dabei muss eine klare Schwerpunktsetzung in den Bereichen Biotechnologie, Gentechnologie, Gesundheitstechnologie, Chemie, Energietechnik, Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT), Mobilität und Nanotechnologie erfolgen.
    • Die Förderung ergebnisoffener Grundlagenforschung auf EU-Ebene, indem das Forschungsrahmenprogramm „Horizont Europa“ um einen Pfeiler „Research Action“ erweitert wird.
    • Den Ausbau der bilateralen und multilateralen Zusammenarbeit der Forschungszentren der EU, sowie die grundsätzliche Intensivierung von Wissenstransfers, damit auf der Basis innovativer Ideen schneller und häufiger als bisher zukunftsfähige Produkte und Geschäftsmodelle auf den Markt kommen.
    • Die Gründung einer Europäischen Agentur für Sprunginnovationen komplementär zu vergleichbaren nationalen Agenturen. Diese soll radikale und disruptive Innovationen befördern, indem sie koordiniert und Rahmenbedingungen für Innovation verbessert.
    • Eine Überprüfung der Europäischen Regularien auf ihre Innovationsfreundlichkeit und eine Anpassung in den Bereichen, wo wissenschaftlicher und technologischer Fortschritt durch veraltete oder nicht mehr dem aktuellen Wissensstand entsprechende Vorschriften beschränkt wird.
  12. Die Bürgerschaft (Landtag) begrüßt die Einigung des Rates über den Mehrjährigen Finanzrahmens 2021 bis 2027 und die damit einhergehende Abkehr von einer sogenannten „Schuldenunion“.
  13. Die Bundesregierung wird von der Bürgerschaft (Landtag) gebeten, ein Paket von Maßnahmen zu erarbeiten und vorzustellen, um das stabilitätsorientierte Regelwerk von Maastricht robuster zu machen. In einem Maastricht-Pakt 2.0 sollte es nach einem Defizitverfahren automatische Sanktionen gegen Mitgliedstaaten geben, die nicht politisch ausgehebelt werden können.
  14. Die Bürgerschaft (Landtag) fordert den Senat die vorstehenden Bitten und Positionen gegenüber der Bundesregierung und den Institutionen der Europäischen Union zu vertreten. Ferner wird der Senat aufgefordert, in der ersten Jahreshälfte 2021 die Bürgerschaft umfassend über die Ergebnisse der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu berichten und den Fokus dabei auf Bremen und Bremerhaven unmittelbar und/oder besonders betreffende Entscheidungen zu legen.