Ist die Förderung besonders begabter Kinder im Land Bremen in allen Stadtteilen ausreichend? Formen und Wirksamkeit der Begabungsförderung auf dem Prüfstand

Große Anfrage der Fraktion der FDP.

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass ca. 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler eines jeden Jahrgangs über besondere Lernpotenziale verfügen und somit bei guter Förderung weit überdurchschnittliche Leistungen erbringen können. Etwa 2,2 Prozent aller Schülerinnen und Schüler gelten als hochbegabt und sind – potenziell – zu exzellenten Leistungen fähig. Geht man von einer Gleichverteilung im Land aus und legt diesen wissenschaftlichen Analysen zur Begabungsverteilung die Schülerinnen- und Schülerzahlen im Land zu Grunde, umfasst die Zielgruppe der schulischen Begabungsförderung an öffentlichen Schulen mindestens 9000 Schülerinnen und Schüler, im Kernbereich der Hochbegabtenförderung sind es etwa 1300 Kinder und Jugendliche.

Im Land Bremen schließen sich seit 2018 Schulen und Kitas zu Netzwerken zusammen, um eine durchgängige Begabungsförderung zu ermöglichen. Die Vernetzungsstelle Begabungsförderung Bremen (VBB) koordiniert das entstehende Netzwerk und unterstützt die Schulen und Kitas in ihrer Arbeit. Nach eignen Aussagen ist die Ausbildung von Talentlotsinnen und Talentlotsen ein Grundbaustein der Arbeit des VBB. Außerdem zeichnet es für den Anerkennungsprozess der Bildungseinrichtungen als „Begabungsfördernde Einrichtung“ verantwortlich. 

Auch die Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren Bremen (ReBUZ) stehen den Schulen, Eltern sowie den Kindern und Jugendlichen selbst als Ansprechpartner zum Thema Begabung offen. Sie unterstützen etwa bei der Zusammenarbeit von Eltern und Schule, beraten bei Fragen der Beschulung, sind aber auch bei der pädagogischen Einschätzung des Lernpotentials unterstützend tätig und beraten Schülerinnen und Schüler selbst darin, wie sie eigene Stärken entfalten können.

Strukturell ist damit – wie in anderen Bundesländern auch – die Begabungsförderung institutionalisiert. Dennoch beklagen Bildungsforscher wie etwa Aladin El-Mafaalani, dass noch immer Faktoren wie das Elternhaus (insbesondere die soziale Herkunft), die Kinderpersönlichkeit (der Habitus) und der Sozialraum (etwa der Stadtteil) verhindern oder verstärken, ob Begabungen erkannt und angemessen gefördert werden. Überspitzt formuliert er, dass die „Realität sozialer Ungleichheit im Lehrerurteil nicht ausgeglichen, sondern teils unbewusst, teils bewusst berücksichtigt und verstärkt wird.“ (s. dazu: A. El-Mafaalani, Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft, Köln 2020, S. 84). Dabei unterstellt El-Mafaalani nicht eine per se bewusst ausgesprochene, ungerechte und letztlich diskriminierende Bewertung, sondern argumentiert entlang struktureller Bewertungskriterien und zeigt die Abhängigkeit der Beurteilung von der biographischen Prägung der Lehrerinnen und Lehrer auf.

Es stellt sich also die Frage, wie – auch angesichts der enormen Herausforderungen der aufholenden Pädagogik im Land Bremen – die Begabungsförderung gelingt, wo und wie viele Kinder und Jugendliche entdeckt und angemessen gefördert werden und wie es Bremen erreicht, die von El-Mafaalani kritisierte „Realität sozialer Ungleichheit im Lehrerurteil“ auszugleichen.

Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat:

Umfang und Erfassung:

  • Wie viele Schülerinnen und Schüler sind aktuell als besonders begabt und hochbegabt erfasst (bitte nach Schulform, Bezirken, Jahrgängen und Schulen aufschlüsseln) und wie groß ist die Gruppe im Verhältnis zur Gesamtschülerzahl im Land Bremen? Falls es keine Erfassung gibt, wo liegen die Gründe dafür?
  • In welchem Alter wird die besondere Begabung in der Regel erkannt und gefördert bzw. wird Wert auf die systematische Diagnostik besonderer Begabungen gelegt?
  • In welcher Form wurde und wird die von der Kultusministerkonferenz (KMK) am 11. Juni 2015 beschlossene „Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler“ im Land Bremen umgesetzt (bitte konkret ausführen und mit einem retrospektiven und prospektiven Zeitplan der Umsetzungsetappen hinterlegen)?
  • Welche verschiedenen Ansprechpartner haben Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schülerinnen und Schüler selbst, wenn sie eine besondere Begabung oder Hochbegabung vermuten?
  • Welche sozial-psychologischen Hilfen können (hoch-)begabte Schülerinnen und Schüler in ihrem Alltag erhalten?

Begabung und soziale Gerechtigkeit

  • Welche konkreten Rückmeldungen hat der Senat über das Gelingen der eltern- und sozialraumunabhängigen Identifikation und Förderung besonders begabter Kinder und Jugendlicher im Land Bremen? 
  • Welche erhobenen Daten erlauben die Beurteilung, wie gut die eltern- und sozialraumunabhängige Identifikation und Förderung besonders begabter Kinder und Jugendlicher im Land Bremen gelingt und welches Verbesserungspotential ist erkennbar?
  • Welche Formen der Diagnose und Förderung besonderer Begabungen gehen nicht auf Initiative von Eltern und Erziehungsberechtigten zurück und sind tatsächlich unabhängig von ihren Möglichkeiten und Potentialen?
  • Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es für finanziell schwache Familien, die mit einer verstärkten Förderung ihrer besonders begabten Kinder und Jugendlichen verbundenen Kosten (Fahrtkosten, Anschaffungskosten etc.) aufzufangen und damit eine angemessene Förderung überhaupt erst zu ermöglichen?
  • Welche Kooperationen gibt es zwischen den Schulen in freier und öffentlicher Trägerschaft auf dem Gebiet der Begabungsförderung?
  •  Welche Rolle spielt die Diagnosefähigkeit des individuellen Potentials von Kindern und Jugendlichen in der Lehramts- und Erzieherausbildung? Und wie stark berücksichtigt die Ausbildung der diagnostischen Kompetenz auch die soziale Herkunft, d.h. die familiären und sozialen Rahmenbedingungen der Kinder und Jugendlichen?

Begabungsförderung im Netzwerk – regionale Abdeckung

  • Wie viele und welche Schulen und Kitas haben sich durch die VBB seit 2018 zertifizieren lassen?
  • In welchen Stadtteilen sind durch Koordination und Begleitung des VBB seit 2018 Netzwerke entstanden, in denen sich Kitas und Schulen im Verbund dem Thema Begabungsförderung stellen und in welchen Stadtbereichen existieren diese Verbünde nicht?
  • Welche der Verbünde gehen in ihrer Kooperation über den eigenen Stadt- und Sozialraum hinaus?
  • Wie und nach welchen Kriterien wird die Arbeit in den entstandenen Verbünden als erfolgreich bewertet und wie werden die Verbünde in ihrer täglichen Arbeit (z. B. durch die VBB) begleitet?
  • Ist der Aufbau weiterer Verbünde geplant und welche Kitas und Schulen befinden sich dafür momentan im Zertifizierungsprozess?
  • Wie viele Kinder und Jugendliche aus den in Verbünden organisierten Kitas und Schulen profitieren von dem besonderen Profil ihrer Einrichtung mit Blick auf die Gesamtzahl von Kindern und Jugendlichen an Kitas und Schulen im Land Bremen?
  • Wie viele Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer haben seit 2018 die Ausbildung zur Fachkraft für Potentialentfaltung und Begabungsförderung (sog. Talentlotsen und Talentlotsinnen) begonnen und abgeschlossen, wie groß ist die Nachfrage nach dieser Qualifikationsmöglichkeit und ist das Angebot hierfür passgenau?
  • Welche Kooperationen bestehen zwischen den Schulen und Hochschulen, aber auch mit den Handwerksbetrieben und Industriebetrieben des Landes, um Jugendlichen mit besonderen Begabungen eine angemessene Förderung zu ermöglichen?

Begabung und Diagnostik

  • Wie viele Anfragen haben die ReBUZen zum Themenbereich Begabung/Hochbegabung erreicht, wie viele Beratungen wurden tatsächlich durchgeführt und bei wie vielen dieser Kinder und Jugendlichen wurde tatsächlich in einem diagnostischen Prozess eine besondere Begabung oder Hochbegabung diagnostiziert (bitte mit Blick auf die vergangenen fünf Jahre nach Schulhalbjahren, ReBUZen und anfragenden Schulen aufschlüsseln)? Wie viele dieser Anfragen gingen allein auf die Initiative der Eltern zurück?
  • Welche Formen der Diagnostik kommen in den Kindertagesstätten, den Schulen und in den ReBUZen zur Anwendung? Welche weiteren diagnostischen Instrumente werden im Bremer Bildungssystem anerkannt?
  • Inwieweit stehen in den ReBUZen ausreichend personelle Ressourcen zur Verfügung, um Begabungsberatung und -diagnostik in ausreichendem Umfang zu bedienen und wie viel Zeit liegt in der Regel zwischen einer Anfrage beim einem ReBUZ und einem ersten Beratungsgespräch mit den Betroffenen?
  • Inwieweit werden von den Schulen auch die Ergebnisse diagnostischer Verfahren zur Feststellung von besonderen Begabungen oder Hochbegabungen akzeptiert, die nicht über die ReBUZen ermittelt wurden?

Begabung und Förderung

  • Welche Instrumente der Förderung können Betroffene in welchem Umfang nutzen und wie bewertet der Senat die aktuellen Förderinstrumente? Sind zukünftig weitere Fördermaßnahmen geplant?
  • Wie wird sichergestellt, dass Empfehlungen aus den ReBUZen an den Schulen umgesetzt werden? Welche längerfristigen Umsetzungskontrollen und Prozessanpassungen sind möglich und üblich?  
  • Existieren in allen Schulen im Land Bremen individuelle Programme zur Begabungsförderung am Standort oder gibt es ein zentral entwickeltes Konzept und welche Schulen bieten welche Förderprogramme an (bitte jeweils nach Schulform und -standort aufschlüsseln)? Wie sehen die Konzepte konkret aus und sind diese transparent einsehbar?
  • Gibt es bereits in den Kindertagesstätten Programme zur systematischen Begabungsdiagnostik und -förderung und wie schätzt der Senat Umfang, Realisierungsstand und Form der (Hoch)-Begabtenförderung an Grundschulen ein und wie sieht ggfs. ein geplanter Ausbau aus (bitte mit Zeitplan angeben)?
  • Kommt das Modell der Springerklassen im Land Bremen zur Anwendung? Wenn ja, wieviel Springerinnen und Springer gibt es geblickt auf die letzten fünf Jahre (bitte nach Jahren und Standort aufschlüsseln)?
  • Kommt das sog. Drehtürmodell im Land Bremen zur Anwendung und wenn ja, seit wann und wie viele Kinder nehmen am Drehtürmodell teil (bitte nach Schulstandort und Schuljahr aufschlüsseln)?
  • Seit wann erfährt das sog. Drehtürmodell durch das digitale Drehtürmodell eine Ergänzung und Erweiterung? Wie sind diese Förderinstrumente miteinander verschränkt und wie viele Kinder und Jugendliche im Land Bremen erreicht das digitale Drehtürmodell aktuell?