FDP-Fraktion legt Positionspapier zur aktuellen Situation in der Kindergesundheit und zu daraus resultierenden politischen Forderungen auf Landes- und Bundesebene vor.

Einführung

Die aktuelle Situation in den Kinderkliniken und Kinderarztpraxen ist so erschreckend wie besorgniserregend. Dass einmal Nachrichten von fehlenden Medikamenten den Familienalltag mit krankem Nachwuchs prägen werden, hätte niemand in der Nachkriegsgeneration für möglich gehalten. Der hohe Krankenstand auch unter Erwachsenen führt dazu, dass der Betrieb von Schulen und Kitas nicht mehr abgesichert werden kann. Verlässliche Bildung und Betreuung sind – trotz Industrienation und wirtschaftlichem Wohlstand – nicht mehr garantiert. 

Die Frage, ob wir unseren Kindern ein gesundes Aufwachsen ermöglichen, muss ein Zentralthema politischen Handelns sein. Viele der vorgeschlagenen Maßnahmen greifen nicht akut, dennoch ist es notwendig, diese schon jetzt einzuleiten, da auch die mittel- und langfristige Lage schon heute verbessert werden muss. 

Wir begrüßen, dass der Senat auf die aktuelle Infektionswelle reagiert und das Kinderimpfzentrum von Januar bis März in eine Kinderarztpraxis umwandeln will, um die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte zu entlasten.

Pädiatrische Versorgung

Die Kindergesundheit ist ein komplexer medizinischer Bereich, der viel zu häufig stiefmütterlich behandelt wird. Heterogene Altersgruppen und die vielfältigen Krankheitsbilder brauchen oft eine zeitintensive und hoch individualisierte Behandlung. Damit wächst der Bedarf an medizinischem Personal und die Behandlung wird kostenintensiv. Gerade die Vorhaltekosten in der Pädiatrie sind hoch, weshalb in der Vergangenheit Kapazitäten begrenzt blieben oder abgebaut wurden. 

Mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention 1992 wurde auch für den Gesundheitsbereich ein wichtiges Signal gesetzt: In Artikel 24 nimmt die Gesundheitsversorgung von Kindern eine besondere Rolle ein. Die Behandlung von Krankheiten und die Wiederherstellung der Gesundheit von Kindern muss demnach auf ein Höchstmaß angehoben und ärztliche Hilfe dauerhaft sichergestellt werden. 

Engpässe

Schon mit der Pandemie war deutlich geworden, dass die Versorgungssituation im ambulanten und stationären kinder- und jugendpsychiatrischen, psychotherapeutischen und sozialpädiatrischen Bereich nicht ausreichend ist. Aktuell spitzen sich diese Engpässe weiter zu. Sie betreffen sowohl die medizinische Versorgung der Kinder und Jugendlichen durch eine ausreichende Anzahl von Kinderärztinnen und -ärzte als auch die Bereitstellung von bestimmten fiebersenkenden Medikamenten, Krebsmedikamenten und manchen Antibiotika. Zudem werden die Betten in den Kinderkliniken durch die aktuell sehr früh einsetzende Erkältungswellen u. a. mit dem Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) knapp. 

Das eingeführte Vergütungssystem mit diagnosebezogenen Fallpauschalen führt außerdem zu Fehlallokation und Fehlversorgung.

Politische Selbstverpflichtung

Die medizinische Unterversorgung von Kindern und Jugendlichen trifft die Schwächsten unserer Gesellschaft. Eine kritische Zuspitzung in der pädiatrischen Versorgungslandschaft muss deshalb mit allen Mitteln verhindert werden. Ein solcher Verstoß gegen die Kinderrechte darf kein Dauerthema in einer modernen Gesellschaft sein. Lösungen dürfen nicht an finanziellen Hürden, Medikamenten und personellen Kapazitäten scheitern. 

Akut erkrankten Kindern muss eine qualitativ hochwertige Behandlung und Versorgung zu jeder Tages- und Jahreszeit zu teil werden. Eine Gefährdung unserer Kinder und Jugendlichen durch abnehmende Versorgungsleistungen darf es nicht geben.

Eine hochwertige medizinische Versorgung steht allen Geflüchteten zu, auch geflüchteten Kindern. Bedarfe zu planen und anzupassen, vorhandene Strukturen zu nutzen und aufzubauen, wo sie nicht ausreichend sind, ist aktuelle Aufgabe.

Politische Steuerungsoptionen

  • Der Deutsche Ethikrat hat bereits 2016 eine vorläufige Aussetzung des Fallpauschalensystems für Kinderkrankenhäuser empfohlen. Dieser Empfehlung ist die Politik bisher jedoch nie gefolgt. Sicherstellungszuschläge für Kinderkliniken und Kinderabteilungen können helfen, die notwendige Grund- und Notfallversorgung für Kinder und Jugendliche abzusichern. Eine Abschaffung der Budgetierung stabilisiert die privaten Praxen für Kinder wirtschaftlich und ermöglicht eine Behandlung eng an den Bedürfnissen der Kinder.
  • Die medizinische Landschaft braucht dringend mehr Fachpersonal. Ausbildungs- und Qualifizierungsanreize binden Personal für unsere Jüngsten. Auch Zugewanderten muss es schnell möglich sein, im Berufsalltag anzukommen und zusätzliche Qualifikationen berufsbegleitend zu erwerben. So schnell wie möglich müssen auf Landes- und Bundesebene die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden, um auswärtige Berufsabschlüsse endlich anerkennen zu können. 
  • Alle Aspekte der Versorgungsstruktur in der Kinder- und Jugendmedizin müssen ausreichend geplant und an aktuelle Bedürfnisse angepasst werden – niederschwellig, wohnortnah und bedarfsgerecht sind die planungsleitenden Parameter. Kinder- und Jugendtherapeuten in einer eigenen Arztgruppe zu planen, kann ein Anfang sein. Zudem brauchen wir eine zeitgemäße und bedarfsgerechte Personalbemessung. Die Bundesregierung muss deshalb endlich die Neufassung der Richtlinie zur Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik (PPP-RL) über eine Anpassung des gesetzlichen Auftrags an den gemeinsamen Bundesausschuss voranbringen.
  • Es bedarf eines frühzeitigen Warnmechanismus bei Anzeichen von Knappheiten im kinder- und jugendmedizinischen Bereich, egal ob es sich um Medikamente, Betten oder der Versorgung mit medizinischem Personal handelt. 
  • Nach Untersuchungen des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BdArM) gab es in Bezug auf paracetamol- und ibuprofenhaltige Kinderarzneimittel zu keiner Zeit einen Lieferabriss. Empfohlen wird allerding eine systematische Steuerung der Bevorratung durch Apotheken und pharmazeutische Großhandlungen sowie eine Aufklärung für private Endverbraucher, um durch Nachrichten von Lieferengpässen keine künstliche Verknappung auszulösen. Als wichtige Kompensationsmaßnahme muss die Rezeptur- bzw. Defekturherstellung dringend befürwortet und eine Erstattung daraus resultierender Mehrkosten durch die Krankenkassen erstattet werden
  • Kinderkliniken müssen in Notsituationen Honorarkräfte in der Pflege anwerben dürfen, die zu 100 Prozent abgerechnet werden können.
  • Mehrleistungen in Kinderarztpraxen müssen nach festen Preisen komplett honoriert werden, ohne Abschläge wegen eines Budgets mit Obergrenzen. 
  • Medizinische Versorgung ist staatliche Aufgabe. Die Begleitung von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen aber beginnt in den Familien. Die familienzentrierte Versorgung muss deshalb verbessert und die enge Kooperation zwischen den gesundheitlichen Einrichtungen moderiert werden. Die bedarfsgerechte Versorgung chronisch kranker Kinder muss dabei abgesichert werden und darf die Familien nicht durch überbordende Bürokratie belasten.
  • Nationale Zentren für seltene Krankheiten müssen verlässlich finanziert und Anreize, die medizinische Forschung in diesem Bereich zu intensivieren, wirksam gesetzt werden. Gerade auch das Thema post-Covid braucht hier verstärkte Aufmerksamkeit. Dazu gehört es auch, die Forschungs- und Vernetzungsstruktur zu fördern, um die Diagnose und Behandlung für alle Kinder und Jugendlichen abzusichern.
  • Die Abhängigkeit von Armut und Gesundheit wird in vielen Studien beschrieben. Bremen hat mit weitem Abstand die höchste Armutsquote. Nachhaltig positive Effekte auf die Kindergesundheit generiert man nur mit konsequenter Armutsbekämpfung, da etwa Fehl- und Mangelernährungen, Bewegungsmangel und Übergewicht mit der Armutsquote zunehmen. Das Thema Kindergesundheit braucht im Sinne eines Health-in-all-Policies-Ansatzes einen nationalen Aktionsplan, der für die Bundesländer spezifizierte Elemente enthält. War in Bremen 2019 noch jedes zehnte Kind bei der Einschulungsuntersuchung übergewichtig, war es 2022 schon jedes sechste Kind in den strukturell benachteiligten Stadtteilen fast jedes vierte. Aufklärungsarbeit durch den Kinderarzt, Elternarbeit in den Bildungseinrichtungen und frühe Familienhilfe müssen eng ineinandergreifen, um den bedrohlichen Trend umzukehren.
  • Vorsorge ist auch im pädiatrischen Bereich wesentlicher Faktor nachhaltiger medizinischer Versorgung. Deshalb braucht es bundesweit einheitliche Vorgaben für den Bereich der U- und J-Untersuchungen für Teilnahmepflichten, Einladungssysteme und Sanktionsmaßnahmen. Es braucht die Aufnahme der U10/U11- und der J2-Untersuchung in den Katalog der Pflichtleistungen entsprechend dem Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz 2020. Gerade die J-Untersuchungen werden im Bundesdurchschnitt nur von unter 50 Prozent der Jugendlichen wahrgenommen. Kampagnen zur nachholenden Durchführung im Jahr 2023 können den präventiven Bereich stärken und helfen, medizinische Bedarfe rechtzeitig zu erkennen.
  • Seit Corona hat das Thema Impfen eine neue Bedeutung erhalten. Gleichzeitig zeigt sich, dass bei vielen Eltern durch mangelndes Wissen das Vertrauen in die längst etablierten Standardimpfungen sinkt. Diese Entwicklung ist bedenklich. Es braucht deshalb bundesweit einheitliche Impfziele bei Standardimpfungen; ein bundesweites Impfmonitoring mit repräsentativen Daten zum Impfstatus bei Kindern und Jugendlichen; mehr Aufklärung und Gesundheitskompetenz. Aktivierende Infokampagnen, niederschwellig und vor Ort im Quartier haben in Bremen bei Corona die Impfbereitschaft erhöht. Mit einer ähnlichen Kampagne kann auch für die Standardimpfungen im Kindesalter geworben werden.
  • Eine bewegungsanregende räumliche und soziale Umwelt ist Grundvoraussetzung für einen bewegungsaktiven Lebensstil. Sportstätten für Vereine und Sportunterricht in Kita und Schule sind das eine, viele Bewegungsoptionen aber muss der Alltag mit einer kinderfreundlichen Stadtplanung überhaupt erst ermöglichen. Niederschwellige und vielfältige Bewegungsangebote, die auch sozial benachteiligte Kinder erreichen, sind ein Schlüssel für eine gesündere Gesellschaft. 

Schlussbemerkungen

Die Lebenswirklichkeiten von Kindern und Jugendlichen in unserem Land sind vielfältig. Ihre Gesundheit zu schützen und zu stärken, muss erklärtes Ziel sein – eine Verpflichtung, die Deutschland mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention eingegangen ist. 

Alle Lebensräume und alle Freizeitaktivitäten haben einen Einfluss auf die Gesundheit unserer Jüngsten. Was spielen sie, was essen sie, welche Medien konsumieren sie, wie oft sind sie in Bewegung – all das sind Themen, die ein gesundes Aufwachsen bedingen. Hier liegt viel in der Verantwortung jedes einzelnen und doch bleibt es gesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sensibilisieren. Gelingt es gleichzeitig, ein belastbares Gesundheits- und Versorgungssystem aufzubauen, sind alle Weichen für eine gesunde Zukunft gestellt.

… und wenn es mal eng wird:Familien leisten viel. Betreuungsausfall und Krankheit aber können sie bis an die Belastungsgrenze bringen und Hilfe ist dringend notwendig. Familienfreundliche Kommunen stellen sich deshalb dem Thema Notfallbetreuung für Kinder und familiäre Notfälle. Einen entsprechenden Antrag haben wir im November 2022 eingereicht – Drucksache 20/807 S